Von Prof. Dr. Michael Eichberger

Die Bedeutung der Verfassungsbeschwerde für das Bundesverfassungsgericht und die deutsche Gesellschaft

Gebäude Bundesverfassungsgerichtt
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Prof. Dr. Michael Eichberger war bis 2018 Richter des ersten Senats am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Seit 2004 ist er auch Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und gelegentlich als Experte im Auftrag der IRZ tätig.

 Das Bundesverfassungsgericht genießt seit Jahren hohes Ansehen und Vertrauen in der Bevölkerung. Das hängt nicht zuletzt mit dem Erfolg der Verfassungsbeschwerde zusammen.

Den Gründen hierfür und dem Umgang mit der daraus resultierenden Verfahrenslast soll zunächst nachgegangen werden. Ein Blick auf einige wichtige Rechtsprechungslinien, die wesentlich aus Verfassungsbeschwerden hervorgegangen sind, veranschaulicht die Bedeutung dieses Rechtsbehelfs. Die Frage nach einer Übertragbarkeit des „deutschen Modells“ auf die Verfassungsgerichtsbarkeiten in anderen Ländern schließt den Beitrag ab.

 Die Verfassungsbeschwerde als Vertrauensbasis für das Bundesverfassungsgericht in der Bevölkerung

Seit Jahrzehnten belegen demoskopische Erhebungen, die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Institutionen abfragen, immer wieder, dass das Bundesverfassungsgericht stabil einen absoluten Spitzenplatz einnimmt. Nach Einschätzung der Leiterin des angesehenen Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem Jahre 20121 hat das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in den 1990er und 2000er Jahren noch deutlich zugenommen. Die Bürger sind zu weit über zwei Dritteln von der Notwendigkeit der Kontrolle staatlicher Entscheidungen am Maßstab der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht überzeugt und vertrauen im Grundsatz auf die Abgewogenheit und Richtigkeit seiner Entscheidungen.

In Fachkreisen besteht Einigkeit, dass dieses Ansehen und Vertrauen, das das Bundesverfassungsgericht in der deutschen Gesellschaft genießt, ganz wesentlich mit dem Instrument der Verfassungsbeschwerde zusammenhängt. Die mit der Verfassungsbeschwerde eröffnete umfassende und einfache Zugangsmöglichkeit zum Gericht und deren praktische Handhabung durch das Gericht über mittlerweile nahezu 70 Jahre haben in der Gesellschaft das Bewusstsein verankert, dass sich grundsätzlich alle Bürgerinnen und Bürger zum Schutze ihrer Grundrechte mit einer Verfassungsbeschwerde direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden können.

Die Individualverfassungsbeschwerde war von Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1951 an als eine der Zugangsmöglichkeiten zu diesem Gericht vorgesehen - anfangs allerdings lediglich im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht. In der Verfassung verankert (in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) wurde die Verfassungsbeschwerde erst im Jahre 1969, um sie „änderungsfest“ zu machen. Seither könnte sie nur mit einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit des Parlaments wieder abgeschafft werden.

Internationaler Vergleich und umfassende Reichweite der Verfassungsbeschwerde in Deutschland

Der Gedanke der Verfassungsgerichtsbarkeit hat nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit einen Siegeszug erlebt. Einen neuen Schub hat er nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in den 1990er Jahren und dann nochmals nach 2010 in den Staaten des arabischen Frühlings erfahren. Viele der neu gegründeten oder mit einer neuen rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung versehenen Staaten haben auch erstmals eine Verfassungsgerichtsbarkeit errichtet oder schon vorhandene Verfassungsgerichte in ihrer Unabhängigkeit gestärkt und mit neuen Kompetenzen ausgestattet.

Im Zuge dieser Entwicklung wurde in den meisten dieser Staaten die Einführung der Verfassungsbeschwerde zumindest diskutiert und zum Teil auch realisiert. Ihre Ausgestaltung im Einzelnen, die Zugangsbedingungen und die den Gerichten eröffneten Entscheidungsbefugnisse waren dabei höchst unterschiedlich und damit auch ihre Wirkmächtigkeit. Kaum einer der Staaten führte die Verfassungsbeschwerde indessen so umfassend und frei zugänglich ein, wie sie seit 1951 in Deutschland eröffnet ist.

In Deutschland kann jede Person gegen jede Maßnahme der öffentlichen Gewalt, durch die sie sich in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Verfahrensrecht verletzt sieht, eine Verfassungsbeschwerde erheben (Art. 93 Abs. 4a GG). Die Verfassungsbeschwerde kann sich also gegen jede Maßnahme öffentlicher Gewalt richten, sei es ein Behördenakt, ein Gesetz oder auch eine Gerichtsentscheidung. Dabei kann die Verletzung eines jeden durch die Verfassung garantierten Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts geltend gemacht werden. Für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde bedarf es weder der Zuhilfenahme eines Rechtsanwalts, noch ist sie von der Begleichung einer Gerichtsgebühr abhängig.

Das ist ein gewaltiges Versprechen an Grundrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit. Die Last dieses Versprechens hat das Bundesverfassungsgericht denn auch rasch zu spüren bekommen. Die Zahl der Verfassungsbeschwerden hat lange kontinuierlich zugenommen und sich in den 2000er Jahren auf einem extrem hohen Niveau stabilisiert. Seit über 15 Jahren gehen beim Bundesverfassungsgericht jährlich zwischen 5500 und 6.500 Verfahren ein; über 96 Prozent davon sind Verfassungsbeschwerden. Seit 1951 sind insgesamt rund 236.000 Verfahren beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden.

Wege zur Bewältigung der Flut an Verfassungsbeschwerden

Es verwundert daher nicht, dass das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten darum bemüht ist, Lösungswege zur Bewältigung dieser Verfahrensflut zu finden, ohne dadurch den direkten Zugang zum Gericht unangemessen einzuschränken. Besonders wichtige und effektive Mittel auf diesem Weg sind zum einen die Einführung eines Annahmeverfahrens, zum anderen die prozessualen Hürden der Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde.

Verfassungsbeschwerden bedürfen, um zu einer Entscheidung durch einen der beiden, mit je acht Richterinnen und Richtern besetzten Senate des Bundesverfassungsgerichts zu gelangen, zunächst der Annahme durch eine mit je drei Mitgliedern eines Senats gebildeten Kammer. Die Kammer nimmt eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung durch den Senat an, wenn der Verfassungsbeschwerde grundsätzliche, verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, weil sie eine Verfassungsrechtsfrage aufwirft, die noch nicht in der Senatsrechtsprechung geklärt ist, oder wenn es zur Durchsetzung der Grundrechte oder grundrechtsgleichen Verfahrensrechte den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern angezeigt ist.

Die Entscheidungen der Kammern müssen einstimmig ergehen. Liegt eine Grundrechtsverletzung offensichtlich vor und ist die maßgebliche Frage des Verfassungsrechts bereits geklärt, so kann auch die Kammer selbst einer Verfassungsbeschwerde stattgeben, solange es nicht um die Gültigkeit einer Norm geht. Der Entlastungseffekt des einer Senatsentscheidung vorgelagerten Kammerverfahrens ist enorm. Rund 98 Prozent der Verfassungsbeschwerden werden durch Kammerentscheidungen erledigt.

Der Grundsatz der Rechtswegerschöpfung und das Prinzip der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde sind weitere wichtige Bausteine, um dem Bundesverfassungsgericht die Konzentration auf die verfassungsrechtlichen Kernfragen zu ermöglichen. Die verfassungsprozessuale Pflicht, vor der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zunächst alle anderen Rechtsschutzmöglichkeiten zu erschöpfen, führt notwendig dazu, dass ein Großteil der Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidungen der Fachgerichte gerichtet ist.

Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass Bürgerinnen und Bürger sich im Einzelfall mit der Verfassungsbeschwerde auch direkt gegen ein Gesetz wenden können, wenn es unmittelbar ohne behördlichen Umsetzungsakt in ihre Grundrechte eingreift. Mit den beschriebenen Verfahrensanforderungen an die Zulässigkeit und den Erfolg einer Verfassungsbeschwerde bewegt sich das deutsche Recht im Übrigen ganz im Rahmen vergleichbarer Zulässigkeitsfilter in anderen Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern einen unmittelbaren Zugang zum Verfassungsgericht ermöglichen.

Aus Verfassungsbeschwerden hervorgegangene Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts

Die Erfolgsquote bei den Verfassungsbeschwerden in Deutschland bleibt über die Jahrzehnte hinweg niedrig. Lediglich zwischen zwei und drei Prozent der an das Bundesverfassungsgericht herangetragenen Verfassungsbeschwerden führen dazu, dass das Gericht eine Verletzung der Beschwerdeführerinnen oder Beschwerdeführer in ihren Grundrechten feststellt, die angegriffenen Gerichts- oder Behördenentscheidungen aufhebt oder gar ein Gesetz für nichtig erklärt.

Der Grund für diese niedrige Erfolgsquote liegt sicher zu einem nicht unerheblichen Teil darin, dass die relativ niedrigen Zugangshürden zum Gericht zu einer Vielzahl offensichtlich substanzloser oder noch vor Rechtswegerschöpfung verfrüht erhobener Verfassungsbeschwerden führt. Zudem spiegelt sie eine in der Summe doch weitestgehend rechts- und insbesondere verfassungstreu ablaufende Arbeit der Behörden und Gerichte wider.

Obwohl die niedrige Erfolgsquote bei den Verfassungsbeschwerden Fachkreisen und auch der interessierten Öffentlichkeit durchaus bekannt ist und obwohl die zahlreich zurückgewiesenen Verfassungsbeschwerden natürlich enttäuschte Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zurücklassen, hat dies dem eingangs erwähnten gesellschaftlichen Ansehen und der Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts insgesamt keinen Abbruch getan.

Denn die gleichwohl auch ergangenen stattgebenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen es Behörden- oder Gerichtsentscheidungen wegen der Verletzung von Grundrechten korrigiert oder gar gesetzliche Regelungen als verfassungswidrig beanstandet, werden nicht nur in der Fachöffentlichkeit aufmerksam wahrgenommen; über sie wird auch in der Tagespresse berichtet und vielfach ausführlich diskutiert. Dies gilt nicht allein für die großen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht in oftmals politisch hoch umstrittenen Fragen, welche die Gesellschaft häufig seit Jahren beschäftigen, Recht spricht, sondern auch in den vielen kleineren, Einzelfälle betreffenden Beschlüssen, in denen das Gericht den Einfluss der Grundrechte auf die alltägliche Rechtsanwendung klärt.

Die großen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit von Gesetzen erlangen Gesetzeskraft, aber auch seine Auslegung der Reichweite des Schutzbereichs von Grundrechten und der Grenzen ihrer Einschränkung in kleineren Alltagsfällen bindet Behörden und Gerichte über das Ausgangsverfahren hinaus. So sind, häufig hervorgehend aus Verfassungsbeschwerden, über die Jahrzehnte große und wichtige Rechtsprechungslinien entstanden, die die Gesellschaft in ihrem Freiheitsbewusstsein und dessen Wahrnehmung geprägt haben und noch immer prägen.

Drei Beispiele bedeutender Rechtsprechungslinien

Solche Rechtsprechungslinien, um nur einige wenige zu nennen, sind etwa die Rechtsprechung zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in dem Volkszählungsurteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 (BVerfGE 65, 1), der Geburtsstunde des verfassungsrechtlich garantierten Datenschutzes. Auf dieser Rechtsprechung und auf dem schon früh vom Bundesverfassungsgericht aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip entwickelten Verhältnismäßigkeitsprinzip fußt auch die Rechtsprechungslinie zum Verhältnis von Sicherheit und Freiheit.

Hier hat das Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder Gesetze, in denen den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern weitreichende Überwachungsbefugnisse gegenüber der Bevölkerung eingeräumt worden waren, für teilweise unvereinbar mit verschiedenen Freiheitsgrundrechten erklärt. Die Überwachungsbefugnisse wurden dabei den Sicherheitsbehörden nie gänzlich aus der Hand geschlagen, aber je nach Intensität des erlaubten Überwachungseingriffs von hohen inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Zugangshürden abhängig gemacht (vgl. nur BVerfGE 141, 220).

Von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz und Brisanz waren auch immer wieder Entscheidungen des Gerichts, in denen es den im Grundgesetz enthaltenen strikten Gleichbehandlungsauftrag von Männern und Frauen gegenüber einem Gesetzgeber durchgesetzt hat, der sich insbesondere in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland in diesem Punkt als eher unwillig erwiesen hatte (vgl. insbes. BVerfGE 3, 225 oder auch 10, 59). Vergleichbares gilt für eine Reihe von Entscheidungen aus jüngerer Zeit zur Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften mit Ehen (vgl. BVerfGE 105, 313; 126, 400; 131, 239).

Das Bewusstsein der Bevölkerung vom Einfluss der Grundrechte auf den eigenen gesellschaftlichen Alltag wurde schließlich geprägt durch zahlreiche, nahezu ausschließlich auf Verfassungsbeschwerden hin ergangene Entscheidungen des Gerichts zur Bedeutung der Grundrechte auf Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit. Hier ging es oft um die Auslotung der Grenzen dessen, was Bürgerinnen und Bürger an Meinungs- und Kunstdarbietungen mit Rücksicht auf den Wert dieser Grundrechte für eine freiheitliche Gesellschaft hinzunehmen haben, auch wenn sie Zumutungen für ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht beinhalten.

Zudem befasste sich das Gericht dabei mit der Pflicht von Behörden und Gerichten, gesetzlich vorgesehene Einschränkungen dieser Freiheiten zugunsten der Persönlichkeitsrechte oder der Religionsfreiheit Betroffener, ihrerseits wieder im Lichte der eingeschränkten Grundrechte auszulegen. Enormen Einfluss auf die Praxis von Behörden und Gerichten auf der einen und das staatsbürgerliche Rechtsbewusstsein der Bevölkerung auf der anderen Seite hat schließlich, um ein letztes Beispiel zu nennen, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Diese hat in den achtziger Jahren mit dem aufkommenden Widerstand gegen Atomkraft und für die Friedensbewegung ihren Ausgang genommen (vgl. nur BVerfGE 69, 315).

Die Betonung der nach Auffassung des Gerichts konstituierenden Bedeutung dieses Grundrechts für eine freiheitliche demokratische Gesellschaft hat wesentlich zur realen Effektivität dieses Grundrechts beigetragen, indem es den Sicherheitsbehörden und den von Demonstrationen „belästigten“ Bevölkerungsteilen erhebliche Rücksichtnahmepflichten auferlegt hat. Auch diese Rechtsprechungslinie hat die Bedeutung der Grundrechte für das gesellschaftliche Leben und die unverzichtbare Rolle des Bundesverfassungsgerichts für die effektive Wirksamkeit dieser Grundrechte für sehr viele Menschen in Deutschland real erlebbar und in der Auseinandersetzung damit subjektiv wahrnehmbar gemacht.

Gerade in der aktuellen Krise der COVID-19-Pandemie wurde dies wieder in besonderem Maße deutlich, da das Bundesverfassungsgericht mit einer Fülle von Verfassungsbeschwerden gegen Verbote oder Einschränkungen von Demonstrationen konfrontiert wurde, die sich gegen belastende Schutzmaßnahmen richteten.

Kontextabhängigkeit des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde in Deutschland

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verankerung der Institutionen des deutschen Staates in der Verfassung und ihre freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Einbindung in die Gesellschaft über Jahrzehnte mit seiner Rechtsprechung geprägt. Die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Werte von Freiheit, Gleichheit und dem Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung, die Werte von Rechtsstaatlichkeit und der Notwendigkeit ausreichender demokratischer Legitimierung für alle staatliche Gewalt sind ganz wesentlich auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur in den staatlichen Institutionen, sondern auch im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft verankert.

Das Wissen um die grundsätzliche Möglichkeit, gegen jegliche Verletzung in einem Grundrecht durch welchen Hoheitsträger auch immer, ohne hohe verfahrensrechtliche Hürden vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu können mit der reellen, durch regelmäßige Presseberichte über erfolgreiche Verfassungsbeschwerden unterfütterten Erwartung, auch gegen höchste Institutionen des Staates obsiegen zu können, ist tief verwurzelt im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und trägt das Bundesverfassungsgericht.

Der deutsche Staat und die hiesige Gesellschaft sähen heute anders aus, gäbe es das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsbeschwerde nicht. Für ein solches Ergebnis genügen freilich nicht allein die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit und die schlichte Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde erheben zu können. Für den Erfolg der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland kommt es vielmehr zum einen auf die konkrete rechtliche Ausgestaltung der Organisation des Gerichts, seine Zuständigkeiten und Befugnisse und im Hinblick auf die Verfassungsbeschwerde auf deren konkrete Verfahrensgestaltung an. Zum zweiten kommt es aber auch darauf an, wie die Verfassungsbeschwerde vom Gericht sowie von Bürgerinnen und Bürgern mit Leben erfüllt wird.

Das Bundesverfassungsgericht ist als machtvolle gerichtliche Institution mit weitreichenden Befugnissen für die verfassungsrechtliche Kontrolle aller anderen Hoheitsträger konzipiert worden. Mit der Verfassungsbeschwerde steht allen Bürgerinnen und Bürgern ein Weg offen, diese Befugnisse zum Schutz ihrer Grundrechte abzurufen. Diese Machtfülle hat das Bundesverfassungsgericht kraftvoll, immer wieder auch mit mutigen, zukunftsweisenden Entscheidungen wahrgenommen. Dabei hat es aber in der Summe – von streitigen Einzelfällen abgesehen – stets Augenmaß bewiesen und seiner Rolle, lediglich Gericht und nicht politischer Akteur zu sein, Rechnung getragen.

Erfolg und Bedeutung des Verfassungsgerichts und seines zentralen Werkzeugs – der Verfassungsbeschwerde – hängen also nicht allein von der bloßen Existenz der Institution und einer solchen Verfahrensart ab. Es kommt dafür vielmehr wesentlich auch auf die rechtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen für das Gericht in der Gesellschaft, die Standfestigkeit, Unabhängigkeit und Qualität der Persönlichkeit von Richterinnen und Richtern sowie einen gelegentlichen institutionellen Mut bei der Rechtsfindung an. All dies hat sich beim Bundesverfassungsgericht in den Jahrzehnten seiner Existenz offenbar zumeist recht glücklich zueinander gefügt. Die Regeln über die Rekrutierung der Richterinnen und Richter haben sich insgesamt bewährt und in aller Regel zu einer – auch in politischer Hinsicht – ausgewogenen Besetzung mit hinreichend gewichtigen und selbstständig agierenden Persönlichkeiten geführt.

Auf der Grundlage dieser Besetzungspraxis ist die Rechtsfindung am Bundesverfassungsgericht traditionell deliberativ und konsensorientiert ausgerichtet. Dass sie manchmal von Parlament und Politik als übergriffig empfunden wird, liegt in der Natur der Sache, blieb aber insgesamt doch immer auf eine Kritik an Einzelentscheidungen beschränkt.

Gewicht und Ansehen eines Verfassungsgerichts hängen also neben seiner formellen Verfasstheit von dem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren ab. In Deutschland hat dieses Zusammenspiel, nicht zuletzt wegen des Vorhandenseins eines weit geöffneten Zugangs für alle Bürgerinnen und Bürger zum Gericht durch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde zu einem mächtigen Bundesverfassungsgericht mit starkem Rückhalt in der Bevölkerung geführt. Dies muss für andere Staaten bei Einführung einer Verfassungsbeschwerde nicht in gleicher Weise gelten – bietet aber jedenfalls, je nach Rahmenbedingungen, eine gute Chance für eine Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die es insbesondere mit Blick auf die damit verbundenen Verfahrenslasten sorgfältig zu wägen gilt.

1 Renate Köcher, Bundesverfassungsgericht – das Bollwerk, in FAZ vom 21. August 2012